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04. November 2024

Telefonische Krankschreibung – Fluch oder Segen?

Seit ein paar Jahren steigt die Anzahl der Krankheitstage je Beschäftigtem pro Jahr kontinuierlich an. Gerade durch die Erkältungs- und Grippewellen und natürlich auch die Corona-Pandemie, ist gerade seit 2021 ein Anstieg von +4,0 Krankeitstagen festzustellen.1 Um Praxen und Patienten zu entlasten wurde die telefonische Krankschreibung am 07.12.2023 beschlossen. Stellt sich jetzt die Frage: Was genau ist diese telefonische Krankschreibung und welche arbeitsrechtlichen Auswirkungen sind zu erwarten?
Telefonische Krankschreibung – Fluch oder Segen?

Am 07.12.2023 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nach § 92 I 2 Nr. 7 SGB V die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) zur Konkretisierung der Bewertungsmaßstäbe für die Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit. Grundsätzlich definiert der G-BA in seiner AU - Richtlinie die (krankheitsbedingte) Arbeitsunfähigkeit so, dass „wenn der Arbeitnehmer aufgrund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. Zur Bestimmung müssen objektive Kriterien herangezogen werden, allerdings gilt die konkret geschuldete Tätigkeit als Maßstab. Diese muss aufgrund der Krankheit nicht (mehr) erbringbar sein.“2 Der Arzt oder die Ärztin müssen also aus persönlicher Erfahrung und Expertise heraus diese Bewertung treffen.

Was hat sich geändert?

Die Möglichkeit, sich telefonisch krankschreiben zu lassen, wurde 2020 während der Corona-Pandemie eingeführt, um das Infektionsrisiko in Arztpraxen zu minimieren. Anfangs nur für leichte Atemwegserkrankungen gedacht, wurde diese Regelung mehrmals verlängert und schließlich dauerhaft beibehalten. Seit dem 19. Juli 2023 ist die telefonische Krankschreibung (tAU) für leichte Erkrankungen möglich. Sie gilt allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen:

  • Die Patientin oder der Patient muss der Arztpraxis bereits bekannt sein (d. h. es muss eine bestehende Patienten-Arzt-Beziehung geben).
  • Es muss sich um Erkrankungen handeln, die keinen schweren Verlauf erwarten lassen.
  • Die Dauer der Krankschreibung ist auf maximal fünf Kalendertage beschränkt.
  • Wenn eine Videosprechstunde möglich ist, hat diese Vorrang vor der telefonischen Krankschreibung (Subsidiarität).

Diese Regelung entlastet Arztpraxen, insbesondere in den Zeiten mit hohem Krankheitsaufkommen und erlaubt eine pragmatische Lösung für leichtere Krankheitsverläufe. Gleichzeitig bleibt die Kontrolle durch die Ärzte im Grundsatz gewährleistet, da bei länger andauernden oder schwereren Verläufen eine persönliche Vorstellung erforderlich ist.3

Seit dem 07.12.2023 ist es nun so, dass diese Regelung nicht mehr nur bei leichten Atemwegserkrankungen gilt, sondern für alle Krankheitsbilder, bei denen ein leichter Verlauf absehbar ist. Das bietet mehr Flexibilität, entlastet die Praxen und erleichtert allerdings auch den Zugang zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung(AU), ohne dass dafür ein physischer Praxisbesuch notwendig ist.
Eine wesentliche Voraussetzung bleibt dabei aber weiterhin, dass die Patientinnen und Patienten der jeweiligen Arztpraxis bekannt sein müssen.

Wo liegt die arbeitsrechtliche Problematik?

Jetzt werden Stimmen laut, mit der Sorge, Arbeitnehmer könnten die Regel ausnutzen, um Krankheitsfälle vorzutäuschen. Auch Finanzminister Lindner stellt die tAU infrage, da Unternehmen zunehmend über hohe Krankenstände klagen. Er verweist auf die Korrelation zwischen der Einführung der Maßnahme und den gestiegenen Krankenständen in Deutschland. Auch Arbeitgeberverbände sind der Ansicht, die Krankschreibung sollte wieder ausschließlich nach persönlicher Vorstellung beim Arzt erfolgen. Auch in der arbeitsrechtlichen Literatur wird zunehmend vor der hierdurch geschaffenen Missbrauchsgefahr gewarnt.4
Ärzteverbände hingegen sprechen sich tendenziell für die Beibehaltung der neuen Regelung aus. Sie stützen sich hierbei weniger auf volkswirtschaftliche oder arbeitsrechtliche Gründe, sondern vielmehr auf gesundheitspolitische und medizinische Gründe.

Eine weitere Problematik, die sich vor allem auf prozessualer Ebene auftut, ist der Beweiswert der tAU. Grundsätzlich gilt die Krankschreibung durch einen Arzt oder Ärztin als ein Beweis mit hoher Beweiskraft.5 Dies könnte sich nun durch die tAU ändern. Das Gericht ist nämlich nicht an die Vorgaben des § 275 Ia SGB V gebunden, sondern kann auch außerhalb davon Zweifel an der Krankschreibung hegen. Wie sich das in Zukunft auf die Rechtsprechung auswirken wird, bleibt allerdings abzuwarten.

Grundsätzlich gilt: Die tAU soll nicht als Bescheinigung „zweiter Klasse“ gelten und es wird - zumindest momentan - vor Gericht bei Gewichtung des Beweiswertes noch nicht danach unterschieden. Allerdings ergibt sich bereits aus der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie selbst, dass ein gewisses Rangverhältnis zwischen der physischen Untersuchung in der Praxis, der Videosprechstunde und der tAU besteht.6 Es gibt Stimmen in der Literatur, die eine geringere Schwelle der Erschütterung des Beweiswertes fordern und dafür auch gute Gründe anführen.

Bei einem Telefonat muss der Arzt oder die Ärztin sich einzig auf die Selbsteinschätzung des Patienten verlassen, sowie auf das eigene Gehör. Auch kann es zu Problemen mit der Technik kommen (schlechte Verbindung, Rauschen, etc.), die eine genaue Untersuchung erschweren. Bei sehr hoher Auslastung der Praxis, ist es auch nicht realitätsfern zu vermuten, dass es gar nicht immer zu einem direkten Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin kommt, sondern Patienten nur mit der Sprechstundenhilfe kommunizieren.7

Die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruches aus § 3 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz trifft den Arbeitnehmer. Dabei kommt der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Allerdings begründet die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als solches keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit, d. h. der Arbeitgeber muss keinen Gegenbeweis führen. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der AU dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben, mit der Folge dass der ärztlichen Bescheinigung keinen Beweiswert mehr zukommt.8 Bei einer lediglich telefonischen AU-Bescheinigung dürfte eine geringere Schwelle der Erschütterung dieses Beweiswertes anzunehmen sein. Dies ist auch deshalb anzunehmen, da eine Subsidiarität der telefonischen Krankschreibung gegenüber einer physischen Untersuchung oder einer Video Sprechstande bereits normativ angelegt ist.

Sofern dem Arbeitgeber dies gelingt, muss der Arbeitnehmer konkrete Tatsachen darlegen und im Bestreitensfall beweisen, die den Schluss auf eine tatsächlich bestehende Erkrankung und in der Folge das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit, zu lassen. Hierzu ist es regelmäßig erforderlich, dass der behandelnde Arzt von der Schweigepflicht entbunden wird. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird der Umstand relevant, wie der Arzt die Erkrankung überhaupt diagnostiziert hat und ob gegebenenfalls eine telefonische Anamnese durchgeführt wurde. Denn dem Zeugenbeweis des behandelnden Arztes wird bei lediglich telefonischer Anamnese ein geringerer Beweiswert zukommen.

Noch hat sich die Rechtssprechung dazu nicht geäußert, es gibt allerdings Tendenzen in Richtung einer Abstufung für die Hürde der Erschütterung für die tAU, die zu beobachten sind. Arbeitnehmer ist also grds. zu empfehlen: Soweit möglich, lohnt sich der Weg zum Arzt oder zur Ärztin, um zukünftigen Zweifeln im Notfall begegnen zu können.

Eine Frage, die gerade auch Arbeitgeber interessiert, ist, inwiefern ein Auskunftsrecht des Arbeitgebers besteht, ob eine AU übers Telefon oder durch einen Gang zur Praxis zu Stande kam. Denn grundsätzlich ist im Rahmen der eAU nicht gekennzeichnet, wie sie entstanden ist.

Ein grundsätzliche Pflicht des Arbeitnehmers dazu besteht derzeit nach wohl überwiegender Ansicht nicht, de lege lata fehlt es hier an einem Anspruch des Arbeitgebers. Allerdings gibt es immer mehr Stimmen in der juristischen Literatur, die eine solche Mitteilungspflicht als ungeschriebene arbeitsvertragliche Nebenpflicht werten.9 De lege ferenda wäre denkbar, dass sowohl die ausstellende Praxis als auch die durchgeführte Untersuchungsmethode auf der AU-Bescheinigung angegeben werden. Solange der Gesetzgeber hier nicht tätig wird, bleibt abzuwarten wie die Rechtsprechung reagieren wird. Bis dahin müssen sich Arbeitgeber weiterhin auf die Suche nach beweiserschütternden Tatsachen begeben.

Fazit

Die Einführung der tAU hat sich als gesundheitspolitische Maßnahme erwiesen, welche insbesondere zur Entlastung der Arztpraxen und zur Erleichterung für Patientinnen und Patienten führen soll. Prozessual stellt sie die Parteien hingegen vor neue Herausforderungen. Trotz der politischen Diskussionen bleibt sie vorerst bestehen und bietet eine Alternative zum persönlichen Arztbesuch bei leichteren Erkrankungen. Wichtig bleibt jedoch, dass der Arzt oder die Ärztin eine genaue Abwägung trifft, ob eine telefonische Krankschreibung im individuellen Fall ausreichend ist. Wie die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung mit den aufgezeigten prozessualen Problemen umgeht, bleibt derzeit offen.

Gerade deswegen lohnt sich für Arbeitnehmer weiterhin der Gang in die Praxis, um im Falles des Bestreitens eine Bescheinigung mit hoher Beweiskraft vorlegen zu können.


1 Statistisches Bundesamt, 2024 - https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-2/krankenstand.html .
2 NZA 2024, 228 (228) Wypych/Sander: „Homeoffice-Atteste“ als Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?.
3 Tagesschau.de „Wie die telefonische Krankschreibung funktioniert“, 07.12.2023.
4 ARP 2024, 109 (119) Hoffmann/Kunisch: Die telefonische AU Bescheinigung: Herausforderung für Unternehmen.
5 Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 20. Auflage 2023, § 98 Rn. 110.
6 ARP 2024, 109 (111) Hoffmann/Kunisch: Die telefonische AU Bescheinigung: Herausforderung für Unternehmen.
7 ARP 2024, 109 (111) Hoffmann/Kunisch: Die telefonische AU Bescheinigung: Herausforderung für Unternehmen.
8 BAG 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, BeckRS 2023, 37809.
9 NZA 2024, 217 (224) Uffmann: Arbeitsunfähigkeit und deren Bescheinigung – ein Rechtsbereich im strukturellen Umbruch.

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